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ISEK - Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft "Ökopassionen": Coming of Age im Anthropozän

Über das Projekt

Umwelt und Klima leiden, Pflanzen und Tiere leiden, Kinder und Jugendliche leiden, während ältere Generationen auch angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart weiter profitieren: Dieser von Greta Thunberg und anderen Klimaaktivist:innen formulierte Vorwurf ist in den letzten Jahren zu einem medial verbreiteten Narrativ und auch für populäre Literaturen und Medien prägend geworden. Er wird in Romanen, Comics, Filmen, TV-Serien und Games für Jugendliche und für ein Allgemeinpublikum aufgegriffen. Don’t Look Up, der Netflix-Weihnachtsfilm von 2022, ist ein paradigmatisches Beispiel. Der Komet, der unaufhaltsam auf die Erde zurast, ist unschwer als Metapher für die nahende Klimakatastrophe zu erkennen. Während eine junge Wissenschaftlerin für das Überleben des Planeten kämpft, versucht die Generation, die an der Macht ist, möglichst noch Profit aus dem Weltuntergang zu schlagen.

Jugend war immer schon eine Projektionsfläche für Zukunftsängste und -hoffnungen, und populäre Medien für und über Jugendliche reagieren seit ihren Anfängen im 19. Jh. auf kollektive Fantasien. Doch in den letzten zwei Jahrzehnten ist das Phänomen immer stärker in den Vordergrund gerückt. Dieser Befund, so die These dieses Projekts, hängt, erstens, mit Zukunftsängsten zusammen. Zweitens aber auch damit, dass populäre Medien im digitalen Zeitalter immer stärker mit Jugendmedien verschmelzen. Die kultur-wissenschaftliche Zusammenführung beider Aspekte ist zurzeit noch ein Forschungsdesiderat.

Gerade populäre Romane und TV-Serien reagieren unmittelbar auf Debatten, die als für junge Menschen relevant gelten: Klima und Artenvielfalt, soziale Diversität und Ungleichheit. Die drei emotional aufgeladenen Schlagworte »Jugend«, »Medien« und »Klima/Ökologie« verbinden sich in fiktionalen Formaten zu Erzählungen, in denen existentielle Fragen und Widersprüche über die ästhetische Gestaltung erfahrbar werden, die in der medialen Berichterstattung und in Social Media latent bleiben. In fiktionalen Erzählungen erscheinen jugendliche Figuren zugleich als passiv Leidende und als Aktivist:innen – inszeniert werden Passionen im doppelten Sinn: Das Leiden an der Welt und die Leidenschaft für die Welt ver-schmelzen zu einer Figuration, die unterschiedliche ästhetische Formen annehmen kann. Diese Figuration soll im geplanten Projekt untersucht werden.

Für eine kulturwissenschaftliche Analyse stellen sich folgende Fragen: Welche Konzepte von Jugend zirkulieren in populären Medien der Gegenwart und welche Fantasien und Emotionen in Bezug auf die multiplen Krisen und mögliche Zukünfte machen sich daran fest? Lässt sich nachweisen, dass in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts im populären Erzählen eine neue Figuration von Jugend entstanden ist? Die Hypothese lautet, dass anhand dieser Figuration über die Gestaltung teils widersprüchlicher Emotionen die Auseinandersetzung mit krisenhafter Gegenwart und ungewisser Zukunft ausgehandelt wird. Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass durch die Verflochtenheit der jugendlichen Figuren und ihrer Umgebung mit Elementen der Populärkultur auf allen Ebenen historische Kontinuität behauptet wird. Das komplexe Phänomen soll in vier Projektteilen unter je spezifischen Fragestellungen analysiert werden. »Jugend« bzw. Jugendliche werden als Figurationen eines Zwischenraums – Mensch und Medien; Mensch und Natur – konzipiert, der im Begriff ist, zum zentralen Raum zu werden. 

Das Projekt nimmt mit seiner Fragestellung Bezug auf unterschiedliche Forschungsfelder der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) bzw. Kinder- und Jugendmedien (KJM) sowie der literatur- und medienwissenschaftlichen Populärkulturforschung. Ein wichtiger Bezugspunkt ist die reichhaltige und aktuelle deutschsprachige Forschung zum Adoleszenzroman (Ewers 1997, 2009, 2013; Gansel 2000, 2003, 2004, 2012; Kaulen 1999a, 1999b; Weinkauff/Glasenapp 2010; Lexe 2006, 2010; Müller 2019; Seidel 2019; Kalbermatten 2020a, 2020b; Stemmann 2019, 2020) sowie Studien zu Coming-of-Age- und Teenie-Romanen, Filmen und TV-Serien (Hill 2014; Krauß/Stock 2020; Marghitu 2021).

Ein weiteres relevantes Feld ist die zurzeit florierende Forschung im Bereich der Environmental Humanities, namentlich die ökokritische Forschung zum Anthropozän, sowie auf die ebenso aktuelle Frage nach Verschiebungen im kinder- und jugendliterarischen Feld im Zusammenhang mit Crossover- und Transmedia-Phänomenen im digitalen Zeitalter (Dettmar 2016, 2020; Hoffmann 2019).

Im Fokus des Projekts steht die Frage nach einem Paradigmenwechsel in Bezug auf Jugendkonzepte.  Während Kindheitskonzepte kulturwissenschaftlich seit Ariès breit erforscht sind, sowohl aus historischer als auch (kinder)literaturwissenschaftlicher Perspektive (Baader 2014; Giuriato 2018, 2020; Winkler 2017), stammen die Beiträge zur Erforschung von Jugendkonzepten der Gegenwart vor allem aus der Psychologie und aus der Erziehungswissenschaft (King 2013). Zur Pop-Kultur, namentlich zum Alltag von Jugendlichen, zu subkulturellen Praktiken und jugendlichen Fans kommen wichtige Beiträge aus der Empirischen Kulturwissenschaft (Ege 2013) und aus der Geschichtswissenschaft (Mrozek 2019). Kulturelle Praktiken junger Erwachsener stehen auch in der literatur- bzw. medienkulturwissenschaftlichen Forschung zu Popliteratur im Zentrum des Interesses (Baßler 2022; Baßler/Schumacher 2019). Elemente dessen, was im deutschsprachigen Raum als Pop-Literatur bezeichnet wird – ein affirmatives Verhältnis zur Popkultur, junge Erwachsene als Protagonist:innen, der Text als Teil an einer Kultur, die er durch Verweise ständig gegenwärtig macht (Baßler 2017, 550) – finden immer stärker Eingang in die Mainstream-Populärkultur (Hügel 2007) mit ihrem ausgesprochenen Crossover-Charakter (Hoffmann 2019). In diesem Zusammenhang geht es im Projekt auch darum, die Behauptung, Kultur und Gesellschaft befänden sich in einem Prozess der Regression (Neiman 2014) und würden immer infantiler (Barber 2007) – oft auch eine Diagnose, die im Zusammenhang mit Harry Potter als Crossover-Phänomen formuliert wird (Byatt 2003; Tingler 2017), kritisch zu untersuchen. 

Während in historischen, erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Studien zwischen Kindheits- und Jugendforschung, zwischen Konzepten von Kindheit und ihrer Geschichte sowie Jugendkonzepten unterschieden wird, tut sich die KJM-Forschung schwer mit einer Trennung. Und dies zu Recht, denn eine klare Unterscheidungslinie würde wichtige Errungenschaften der letzten Jahre wiederum rückgängig oder unsichtbar machen. Dies betrifft vor allem die Infragestellung der Trennlinie zwischen Kindheit und Jugend, die durch die Age Studies thematisiert und problematisiert wird (Joosen 2018; Benner/Ullmann 2019; Jakobi 2022; Stemmann 2022). Radikaler noch ist der Zugang der Chrononormativitätskritik aus den Queer Studies. Sie sind im Begriff, das biologische oder chronologische Alter zu verabschieden (Freeman 2010; Lothian 2019). Chrononormativität wird zu einem Konzept, das parallel zu Heteronormativität und Geschlechterbinarität dekonstruiert, oder genauer, queer gedacht werden muss. Der Begriff »Tween« für die Phase am Ende der Kindheit und am Beginn der Pubertät ist sowohl ein Ausdruck von Entgrenzung als auch von Neukategorisirung; ebenso das Phänomen, dass sich vor allem Romane und Filme für die Ausleuchtung dieser Phase jenseits der gängigen Kategorien interessieren. Dies gilt sowohl für Medien, die über Produktion und Paratext and ein junges Publikum adressiert sind, wie auch für Romane und Filme, die ein Allgemeinpublikum ansprechen – etwa Lukas Dhonts Coming-of-Age-Film Close (B 2022), der Konflikte, von denen traditionellerweise im Zusammenhang mit Adoleszenz erzählt wird, am Ende der Kindheit verhandelt.

In diesem Projekt soll es trotz des dezidierten Fokus auf »Jugend« nicht darum gehen, harte Linien zu ziehen, sondern vielmehr mit dem Fokus der Queer Studies die paradoxe Bewegung zu analysieren, die sich nicht in der Pubertät, sondern am anderen Ende des Jugendalters abzeichnet: in der medialen Gestaltung des Übergangs von Adoleszenz zum Erwachsenenalter, beziehungsweise einer Entgrenzung oder Auflösung der Kategorien (Müller 2019). Eigentlich müsste von Meta- oder sogar Anti-Coming-of-Age-Erzählungen die Rede sein, wenn Konzepte von Jugend sowie von Erwachsenwerden radikal in Frage gestellt werden. Das Konzept »Jugend« greift zwar noch auf die Genremodalitäten von Adoleszenzroman bzw. Coming of Age zurück (Stemmann 2019, 198), ohne sich aber an entwicklungspsychologischen und pädagogischen Wissensbeständen zu orientieren, wie das lange der Fall war (Gansel 2004). Nach wie vor gilt, dass »das Verhältnis von gesellschaftlicher Kontextualisierung und literarischer Darstellung von Jugend« besonders eng ist (Stemmann 2020, 166), da Literatur – und, wie ich ergänzen möchte, populäre Medien aller Art – »eine zentrale Stellung in der diskursiven Formung und Entwicklung von Jugend als Konzept ein[nehmen], [sind sie] nicht nur Speicher- und Ausdrucksmedium dieser Prozesse, sondern Reflexions- und Verhandlungsraum der Vorstellungen von Jugend« (ebd.; vgl. dazu auch Ewers 1997; Oesterle 1997; Steinlein 2004).

In fiktionalen Erzählungen, aber auch in theoretischen Studien, kommen in jüngster Zeit andere Diskurse ins Spiel (Neiman 2014). Auch hier zeigt sich der Ausbruch populärer jugendmedialer Genres aus dem, was in der Kinder- und Jugendliteraturforschung als Zusammenspiel von pädagogischem und literarischem Handlungssystem konzipiert wurde (Ewers 2012, 2022). Um diese Entwicklung zu beschreiben, kann sich das Projekt auf die Vielzahl der auch von der deutschsprachigen KJM-Forschung intensiv rezipierten und weiterentwickelten Studien zu transmedialem Erzählen (Jenkins 2003, 2008; Hancox 2021) bzw. transmedia storyworlds (Ryan 2005, 2006, 2013; Klastrup/Tosca 2018; Thon 2016) ebenso wie auf Arbeiten zur populären Serialität (Kelleter 2014; Dettmar 2016, 2018, 2020; Bronfen 2020; Wald 2020) stützen.

Zentral für den Bezugsrahmen des Projekts sind auch die Environmental Humanities. Über längere Zeit schien es, als liessen sich neomaterialistische Theorien – im Gegensatz zu Cultural Animal und Cultural Plant Studies – nur schwer in eine kulturanalytische Methodik übersetzen. Auf der einen Seite lässt sich ein enormes Interesse an den Texten von Haraway, Barad, Morton, Harman u.a. beobachten (Hoppe 2021), auf der anderen Seite überwog in literatur- und medienwissenschaftlichen Analysen der Fokus auf der Repräsentation von nicht-menschlichen Akteuren, von Tieren, Pflanzen und Landschaften (Horn 2020, 159). Eine Annäherung an das Anthropozän durch die Lektüre ihrer ästhetischen Formen wird in der Literaturwissenschaft vor allem von Eva Horn (Horn/Bergthaller 2019; Horn/Bergthaller 2020; Horn 2020) sowie von Marco Caracciolo (Caracciolo 2021) eingefordert und realisiert. Begriffe, die von Anthropozän-Theoretikern wie Timothy Morton schon seit einigen Jahren konzeptualisiert werden (Morton 2007, 2013, 2016), finden nun Eingang in kulturanalytische Methodologien. Die Konzepte Latenz (latency), Verflechtung (entanglement) und Massstabskonflikte (clash of scales) (Horn 2020, 159) sind auch für dieses Projekt produktive Kategorien. Diese Entwicklung verspricht eine produktive Auseinandersetzung mit Wahrnehmung im Anthropozän und deren ästhetischer Gestaltung. Dabei geraten populäre Literaturen und Medien mit ihren spezifischen Wiederholungs- und Variationsstrukturen aus dem Blick. Doch gerade im Figürlichen, das im populären Erzählen eine zentrale Rolle spielt, in wiederkehrenden Figuren, die immer auch Reflexionsfiguren ihrer eigenen, mit Genremodalitäten aufs Engste verflochtenen Geschichte sind, verdichten sich die Probleme, die das Erzählen vom Klimawandel und der Verlust der Artenvielfalt mit sich bringen. Eine solche Figur sind Jugendliche als Katalysatoren, als Projektions- und Reflexionsflächen für leidenschaftliche Gefühle, die mit der Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung zu tun haben.

Die Frage, die in der Objektorientierten Ontologie, insbesondere bei Timothy Morton und seiner Theorie des von Hyperobjects geprägten Anthropozäns (Morton 2013) zentral ist, spielt auch für das vorliegende Projekt eine Rolle: die Frage nämlich, wie sich die latenten, schleichenden Veränderungen von Klima, Böden, Meeren etc. überhaupt begreifen und darstellen lassen. Timothy Clark bringt die Frage auf den Punkt: »What are the unintended consequences of being a motorist, taking a flight, eating meat or of simply flicking a light switch?« (Clark 2011, 1).

Ähnlich wie die Allgemeinliteraturwissenschaft ist auch die KJL/M-Forschung zurzeit im Begriff, den Fokus von einer vor allem an Repräsentationen von Umwelt, Natur, nicht-menschlicher Entitäten sowie naturkultureller Beziehungen interessierten Lektüre und Analyse auf eine Ebene ästhetischer Formen und Figurationen zu verschieben. Die Inszenierung jugendlicher Figuren ist stark über deren Verbindung bzw. über Spannungen mit ihrem Umfeld, ihrem »Ökosystem«, gestaltet. Beziehungen innerhalb von Gruppen spielen eine Rolle, ebenso der Ort ihrer Körper im familiären und institutionellen Raum, in der »Natur« oder in Zwischenräumen, die sie selbst bespielen können. Hier kann das Projekt wiederum auf Vorarbeiten aus den Queer Studies (Ahmed 2004, 2006) sowie aus der kulturwissenschaftlichen KJM-Forschung anschliessen (Roeder 2014). In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von Publikationen entstanden, die Animal- und Plant Studies für die KJM-Forschung produktiv machen wollen (Duckworth/Guanio-Uluru 2022; von Glasenapp u.a. 2022).

Anschlussfähige Zugänge finden sich ausserdem in neomaterialistischen, posthumanistischen, ökofeminis-tischen Theorien – Relevant sind sie insbesondere auch, weil Konzepte wie Donna Haraways »speculative fabulation« (Haraway 2016, 4) über ihre Popularisierung einen starken Einfluss auf die Künste der Gegenwart, aber auch auf populäre Medien haben (Lötscher 2022a). Auf der Ebene der Handlung und der Figuren wurden jugendliche Protagonist:innen vor allem in der Future Fiction – in dystopischen und postapokalyptischen Romanen – untersucht (Kalbermatten 2020, Conrad 2022, Hollerweger 2022). Insbesondere Manuela Kalbermatten hat mit ihren Analysen aus der Perspektive der Gender Studies wichtige ideologiekritische Lektüren vorgelegt, die vor allem für Projektteil 4, der sich mit Climate Fiction befasst, von grosser Relevanz sind (Kalbermatten 2020). Die Engführung von Jugend, Ökologie, Machtfragen und Zukunftsvisionen in Future Fiction wird vor allem in Hinblick auf Konzepte weiblicher Handlungsmacht gelesen.

Dennoch ist die medienästhetische Perspektive in die Forschung insbesondere zu populären Jugendmedien noch wenig eingeflossen. Der Fokus liegt auch in neueren Publikationen auf Repräsentationsfragen, was vor allem mit dem Anliegen der didaktischen Vermittlung eines ökologischen Bewusstseins zu tun hat. Die KJM-Forschung greift damit einen zentralen Traditionsstrang des Ecocriticism auf, denn ein Ziel des angestrebten Perspektivenwechsels ist die Sensibilisierung, wenn nicht Aufrüttelung des Publikums (Bühler 2016). Den Künsten ebenso wie populären Medien wird die Aufgabe zugetraut, an einem kulturellen Setting für eine ökologische Zukunft mitzuarbeiten. Paradigmatisch ist die Diskussion um die sogenannte Climate Fiction (Goodbody/Johns-Putra 2018).

Neu und bisher noch nicht Thema kulturwissenschaftlicher Literatur- und Medienforschung ist jedoch die Umcodierung von Jugendfigurationen angesichts des Klimawandels, multipler Krisen und der gesteigerten Sensibilität für naturkulturelle Verflechtungen und Abhängigkeiten: Psychisch kranke und wütende Jugendliche sind nicht nur Grund zur Sorge, sondern werden auch als Bedrohung wahrgenommen – zugleich repräsentieren sie die Zukunft und sind die einzige Aussicht auf Rettung. Die nachhaltige Zukunft, die sie gestalten wollen, ist zwar besser als die Katastrophe, aber dennoch ungewiss, weil sie die Machtverhältnisse auf den Kopf stellen könnten.