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Schweizerischer Nationalfonds (SNF)
03.2005–06.2009
Prof. Dr. Alfred Messerli
Prof. Dr. Philipp Sarasin
Prof. Dr. Sabine Maasen
Das vom Nationalfonds unterstützte, interdisziplinäre Forschungsvorhaben besteht aus vier Teilprojekten. Ausgangspunkt für alle ist die Ratgeber-Kolumne „Liebe Marta“ der Boulevardzeitung „Blick“ mit Dokumenten aus der Zeit von 1980 bis 1995 (aus dem Nachlass der Journalistin Marta Emmenegger). Die Originalbriefe und die veröffentlichten Kolumnen werden aus den Perspektiven von Volkskunde (Alfred Messerli), Sozialgeschichte (Philipp Sarasin) und Soziologie (Sabine Maasen) untersucht. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die wechselseitige Verschränkung von Sexualität, Medialität und Therapeutisierung der modernen Gesellschaft. Als Vergleichsgrösse zu dem Briefkorpus dient deutschsprachige Ratgeberliteratur zum Thema „sexuelle Aufklärung und Lebensführung“ aus dem 20. Jahrhundert; zudem werden Seiten deutschsprachiger Ratgeberforen im Internet durchleuchtet. Die Forschungen gehen also den Veränderungen des ‚schreibenden Sprechens‘ über Sexualität im vergangenen Jahrhundert bis zur Gegenwart nach und fragen dabei nach Erkenntnissen zu Geschlechterbeziehungen, Intimverhältnissen und Selbstführung in der Schweiz in diesem Zeitraum. Das Quellenmaterial der „Lieben Marta“ ist einzigartig: im Gegensatz zu sonstigen Untersuchungen über Leserbriefe, die ausschliesslich auf publizierten Briefen basieren, kann dieses Projekt auf ein ausserordentlich dichtes und umfassendes Korpus von nicht publizierten Briefen zugreifen. Das bietet Gelegenheit für vielfältige Frage-stellungen in den genannten Disziplinen. Das volksliterarische Teilprojekt beschäftigt sich vorwiegend mit den handschriftlichen bzw. getippten Leserbriefen – mit deren sprachlicher Form, die sich zwischen Stereotypen über „Geschlecht“ und individueller Gestaltung bewegt – sowie mit den Antworten Marta Emmeneggers. In einem diskursanalytischen Zugang und einer rhetorisch-hermeneutischen Zeichentheorie sucht die Forschung die gegebenen Texte als Ausdruck des Ringens des modernen Menschen um ein Wissen über seine Sexualität und sein Selbst zu erfassen. In diesem Ringen spielt der Ratgeberdiskurs eine wichtige Rolle: er produziert in hohem Masse das Wissen über Sexualität und das Selbst, stellt gewisse Formen von sexuellen Selbstverhältnissen den Subjekten als wünschenswert vor – ja, er konstruiert im eigentlichen Sinne das, was je aktuell „Sex-ua-lität“ genannt wird. Die Fragen nach der Produktion dieser Briefe – Texte eines pragmatischen, alltäglichen Schreibens – stehen im Zentrum des Interesses: Welches die konstruktiven Elemente dieser Schriftlichkeit sind, in welcher Weise also Menschen über sich und ihre Sexualität schreiben, wenn sie von einem Massenmedium dazu aufgefordert werden, wie Intimität dabei hergestellt wird, mit welchen Mitteln das Problem beschrieben wird, auf welche Weise das bisher nicht Sagbare „sagbar gemacht“ wird, das sind einige der Fragestellungen, denen die Arbeit auf den Grund gehen will. Aufschlussreich sind weiter auch Fragen zum Prozesscharakter des Ratgeberdiskurses: wie also sich die sexuellen Normen im Laufe der untersuchten Periode verändern, in welcher Form bestehende Geschlechterrollen in diesen Ratgeberprozessen reproduziert oder neu verhandelt werden.