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ISEK - Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft Populäre Kulturen

Statement der Lehrenden und Mitarbeitenden der Abteilung Populäre Kulturen des ISEK an der UZH anlässlich der Polemiken gegen die Postkoloniale Theorie

In den letzten Wochen und Monaten haben Medienvertreter:innen, Politiker:innen und auch einige Hochschuladministrator:innen uninformierte, sachlich falsche oder höchst polemische Aussagen über postkoloniale Studien verbreitet und diese pauschal als unwissenschaftlich diskreditiert. Als Kulturwissenschaftler:innen und Kulturanthropolog:innen, die sich in Lehre und Forschung auf postkoloniale Theorien beziehen, sich selbst an der Theoriebildung beteiligen beziehungsweise sich kritisch damit auseinandersetzen, möchten wir dazu Stellung beziehen.

(English version below.)

Zunächst gilt es festzuhalten, dass das Feld der postkolonialen Studien weder ein homogenes Feld noch eine einheitliche politische Position ist. Vielmehr konstituiert es sich aus Forschungs- und Theorietraditionen, innerhalb derer unterschiedliche Ansätze und Ansichten vertreten werden. Texte und Fragestellungen aus diesen Diskussionszusammenhängen sind für Kulturwissenschaft und Kulturanthropologie in Forschung und Lehre wichtige Bausteine. Sie dienen der historischen Perspektivierung von gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen und Phänomen und gehören aus guten Gründen zu den internationalen wissenschaftlichen Standards. Postkoloniale Theoretiker:innen haben entscheidend zu einem kritischen Verständnis historisch gewachsener Ungleichverhältnisse und Unterdrückungsformen beigetragen, das der Komplexität globaler Ströme und Abhängigkeitsverhältnisse im (formalen) Kolonialismus und danach gerecht werden soll und sich einer einfachen Täter-Opfer-Binarität widersetzt.  

Ein Verständnis dieser Vielfalt und Komplexität der postkolonialen Studien lassen viele Kommentator:innen derzeit vermissen. Vielmehr scheint die aktuelle Polemik gegen die postkoloniale Theoriebildung einer plumpen Abwehr gegenüber einer darin beinhalteten oder vermuteten Kritik an westlichen Gesellschaften und der von ihnen ausgehenden Gewalt gleichzukommen. In Anbetracht der ungleichen Verteilung der Ressourcen auf der Welt brauchen wir aber mehr solche Problematisierungen, Aktualisierungen, Differenzierungen – und gelegentlich auch prägnante Zuspitzungen.

Postkoloniale Perspektiven und Theoretisierungen pauschal zu diskreditieren, kann der Komplexität dieses Feldes von Fragen, Erkenntnissen und Theorien nicht gerecht werden. Im Gegenteil gilt es, die Impulse der postkolonialen Studien weiterzuverfolgen, auch mit Blick auf die Schweiz und in internationaler Zusammenarbeit.

Das bedeutet nicht, dass es innerhalb dieses Feldes keinen Anlass zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und Kontroversen um Begriffsbildung, Methoden und empirisch zu klärende Fragen gäbe. Um normative beziehungsweise politische Positionen muss gestritten werden – wenn nicht wegen früheren oder parallelen Ereignissen, dann spätestens nach der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023, den Geiselnahmen und den Reaktionen darauf, sowie nach dem darauffolgenden israelischen Angriff auf Gaza, und aktuell angesichts der dortigen humanitären Katastrophe. Die Dämonisierung postkolonialer Perspektiven, wechselseitige Boykottaufrufe, antisemitische und rassistische Angriffe auf Studierende und Forscher*innen (die auch den Zwang zur Positionierung beinhalten) und die Behandlung von Palästinenser*innen und ihrer Anliegen als minderwertig und per se gefährlich scheinen solche – auch selbstkritische – Diskussionen derzeit jedoch nahezu zu verunmöglichen.  

Als empirische Kulturwissenschaftler:innen und Kulturanthropolog:innen vertreten wir ein akademisches Fach, das – nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Geschichte in Deutschland und Österreich – sowohl die Realitäten des Antisemitismus als auch die von Rassismen verschiedener Art aufarbeitet und dies weiterhin tut, auch in der Analyse der Gegenwart. Im Kontext der Debatten um Hochschulen werden wichtige Problematisierungen von Antisemitismus und die gerechtfertigte Empörung über antisemitische Angriffe jedoch von Gegner:innen der postkolonialen Theorie instrumentalisiert und kritisches Denken und Forschen unter Generalverdacht gestellt. An Universitäten, die mit der Einordnung und der Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen befasst sein sollten, ist zuletzt eine Atmosphäre der Angst entstanden. Das gilt für die Beschäftigung mit dem Konflikt in Israel und Palästina, aber auch für das Feld der postkolonialen Studien. Differenzierte wissenschaftliche Forschung wird stark erschwert; Studierende sowie Forschende halten sich im Denken und in der Auseinandersetzung zurück, um nicht zum Ziel von medialen Kampagnen zu werden. Gegen diese Tendenz betonen wir unsere diversen, notwendigerweise auch widerstreitenden Sichtweisen und verwehren uns gegen wissenschaftsfeindliche Meinungsmache. Anstatt Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen gegeneinander auszuspielen, arbeiten wir in unseren Gesellschaftsanalysen sowohl die verbindenden Elemente von Antisemitismus und Rassismus als auch ihre Unterschiede heraus.  

Universitäten dürfen sich die Parameter ihrer Diskussionen nicht von Kulturkämpfer:innen diktieren lassen, sondern müssen ihre Unabhängigkeit wahren, um Räume für kritisches Denken zu bleiben.

 

 

In recent weeks and months, media representatives, politicians and even some university administrators have spread uninformed, factually incorrect or highly polemical statements about postcolonial studies, discrediting them across the board as unscientific. As cultural studies scholars and cultural anthropologists who use postcolonial theories in teaching and research, participate in the formation of these theories or otherwise critically engage with them, we feel compelled to make this statement.  

Firstly, it should be noted that postcolonial studies do not constitute a homogeneous field or a uniform political position. As a dynamic, transdisciplinary field, it is made up of research and theoretical traditions representing a variety of approaches and views. The texts and questions emerging from these discussions are important building blocks for research and teaching in cultural studies and cultural anthropology. They serve to put contemporary social structures and phenomena into historical perspectives, and are, for good reason, internationally recognized as standard in academia. Postcolonial theorists have made decisive contributions to a critical understanding of historically rooted inequalities and forms of oppression, aiming to do justice to the complexity of global flows and interdependencies in (formal) colonialism and all since, and hence defy a simple perpetrator-victim binary.   

Many commentators lack an appreciation for the field’s diversity and complexity. Instead, the current polemic against postcolonial studies appears tantamount to a clumsy defense against a criticism of Western societies and the myriad violences emanating from them. In light of the unequal distribution of resources across the world, we need more such modes of problematization, updates, differentiations – and occasionally also the drawing of pointed contrasts.  

Discrediting postcolonial approaches across the board fails to do justice to the complexity of the field’s research questions, findings and theories. Rather than discredited, the modes of inquiry of postcolonial studies should be pursued further, also with regards to Switzerland and in international cooperations.  

This does not mean there is no room for scholarly disputes and controversies, to be clarified empirically, with regards to the field’s concepts, methods and lines of questioning. Indeed, political and normative stances must be discussed and debated - if not already due to earlier or parallel events, then following the recent Hamas terrorist attack on October 7th, 2023 and the taking of hostages, the subsequent Israeli attack on Gaza, and currently in view of the ongoing humanitarian catastrophe there. However, the demonization of post-colonial perspectives, reciprocal calls for boycotts, antisemitic and racist attacks on students and researchers (which also include being expected to take a position) and the treatment of Palestinians and their concerns as inferior and per se dangerous make such discussions – including self-critical ones – currently near-to-impossible.  

As cultural anthropologists and cultural studies scholars, we represent an academic discipline that – not least in dealing with its own Nazi history in Germany and Austria – has worked to critically engage with the realities of antisemitism and racism of various kinds, and must continue to do so, including in analyses of the current moment. In the context of debates about universities, however, the necessary and important problematization of antisemitism, and the justified indignation about recent antisemitic attacks, have been instrumentalized by opponents of postcolonial theory, and critical thinking and research have generally been placed under suspicion. At universities – institutions tasked with the classification and reflection of social developments – an atmosphere of fear has emerged. This concerns discussions about the Israel/Palestine conflict, but also about the field of postcolonial studies. Differentiated academic research is being made more difficult; students and researchers are refraining from thinking and exchanging to avoid becoming targets of media campaigns. Against this tendency, we point to our diverse and necessarily conflicting viewpoints, and refuse to accept propaganda that undermines scientific research. Rather than pitting forms of discrimination and oppression against each other, we investigate, in our research, the overlaps and connections across, and differences between, antisemitism and racism.  

Universities must not allow the parameters of their discussions to be dictated by those waging a culture war, but instead should maintain their independence to remain spaces for scholarly debate and critical thinking.