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ISEK - Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft Populäre Kulturen

Die grüne Stadt: Urbane Naturen und die Refiguration des Städtischen (Zürich, 1980–2020)

Verfasser
Tobias Scheidegger, Dr.

Projektrahmen
Laufendes Habilitationsprojekt am ISEK/Philosophische Fakultät der Universität Zürich

Projektbeschrieb

Die Studie untersucht den Wandel urbaner Naturbeziehungen in der Stadt Zürich über den Zeitraum der letzten 40 Jahre. Aus genealogischer Perspektive zeigt die Analyse auf, wie die gegen Ende der 1970er-Jahre «entdeckte» Natur des städtischen Siedlungsraums zu einem wichtigen Medium stadtgesellschaftlicher Selbstverständigung wurde – und bis heute ist. Als solches stellt(e) das urbane Grün ein Experimentierfeld für diverse urbane Transformationen dar; für milieuspezifische Werte und Lebensstile, für stadträumliche Planungs- und Gestaltungsverständnisse sowie für neue Entwürfe von urbaner Identität, Gemeinschaft und des guten Regierens.

Die Studie ist in drei Teile gegliedert. Ein erster Teil widmet sich populären wie professionellen Projektionen auf urbane Oberflächen. In Diskursen um die Materialität und Morphologie des städtischen Gewebes wurden stets auch Vorstellungen einer idealen Urbanität verhandelt. Eine herausragende Rolle in diesen Oberflächen-Imaginationen und Raumbildern nimmt die «grüne Stadt» ein, die sich durch begrünte Fassaden, Dächer oder Strassen auszeichnet. Dies war in der Stadtkritik der 1970/80er-Jahre der Fall, als man graue monotone Betonflächen als Synonym für Entfremdung und Bürgerferne kritisierte und Gegenbilder der grünen Stadt als Hort einer alternativen Moderne skizzierte. Vergleichbare Debatten sind auch jüngst wieder virulent geworden: Unter gewandelten Vorzeichen, aber noch immer oberflächenfixiert, werden Grünarchitekturen mit Blick auf mainstreamisierte Nachhaltigkeit und die Klimakrise kontrovers debattiert.

Ein zweiter Teil zeichnet nach, wie ab den späten 1970er-Jahren die Entität «Stadtnatur» entdeckt wurde. Alternative Akteure sowie etablierte Naturschutzorganisationen machten breitere Kreise auf die Existenz von Naturvorkommen im Stadtraum aufmerksam und rückten neue, bislang ignorierte Stadträume wie Industrieareale, Gleisanlagen und Brachflächen in die öffentliche Wahrnehmung. Mit dieser stadtökologischen Sehschule ging eine naturästhetische Erziehung einher, die eine Umwertung konventioneller Schönheitskriterien des Grünen anstrebte und verwilderte Innenhöfe und wuchernde Unkräuter als neue Ideale zu etablieren suchte. Diese neuen Naturauffassungen prägten bald auch die institutionalisierten Naturbeziehungen städtischer Behörden mit, beispielsweise des Gartenbauamtes der Stadt Zürich. Dieses suchte jenen Credos gemäss städtische Grün- und Naturräume auf neue Weise zu planen, schützen und gestalten. Seit den 2010er-Jahren sind neben den Behörden wieder vermehrt auch zivilgesellschaftliche Akteure zu verzeichnen, was auch mit inhaltlichen Akzentverschiebungen in Richtung Ernährung und Gärtnern einherging.

Der dritte Teil beleuchtet, wie durch neue (Stadt)Naturbeziehungen stets auch neue Beziehungsweisen zwischen den menschlichen Stadtbewohnern sowie Formen der Identifikation und Zugehörigkeit angestrebt werden. Diese Sozialimaginationen sind eng verknüpft mit Lebensstilen urbaner akademischer Mittelschichten seit den 1970er-Jahren. Einerseits fanden deren Experimente in neuartigen Praktiken der Raumaneignung bald auch Niederschlag in (stadt)naturkundlichen Vermittlungsformaten wie Stadtwanderungen oder Stadtsafaris. Diese reicherten den Stadtraum semiotisch an und werteten diesen zum Substrat neuartiger Stadtidentitäten auf. Andererseits lobte man naturbezogene Projekte als Nucleus urbaner Sozialität aus, so den begrünten Innenhof der 1970er-Jahre, den Quartierkompost der 1980er-Jahre oder die Gemeinschaftsgärten der Gegenwart. Erst in jüngerer Zeit wurden diese Vergemeinschaftungsideale einer kritischeren Befragung unterzogen und auf exkludierende Muster hin befragt. Gewissermassen als Kehrseite der zivilgesellschaftlichen Vergemeinschaftungen war und ist urbanes Grün immer auch ein Medium des Regierens. Schon seit den 1970er-Jahren stellten Stadtnaturbeziehungen ein Experimentierfeld für gouvernementale Praktiken wie Partizipation, Sensibilisierung und Förderung dar. Auf diesem Feld wurden Ideale guten Regierens verhandelt und sich wandelnde stadtgesellschaftliche Hegemonien moderiert.

Ausführliche Projektdarstellung

Anhand des Fallbeispiels Zürich widmet sich die Studie einer Genealogie der urbanen Naturbezüge über die vergangenen 40 Jahre. «Natur» nimmt heute eine zentrale Rolle im urbanen Selbstverständnis ein, sei dies in stadtgesellschaftlichen Debatten und Imaginationen, in Alltagspraktiken und Lebensstilen sowie in unternehmerischen oder administrativen Rechtfertigungsmustern. Diesen Mustern entsprechen auch vermehrte planerische und bauliche Eingriffe in den Stadtraum, die jene ideellen Naturbezüge – mindestens symbolisch – zu materialisieren suchen. Dies ist eine jüngere Entwicklung: Noch in den 1970er-Jahren wurde Stadt mehrheitlich als Antipode des Natürlichen wahrgenommen, wobei diese Betrachtungsweise genau ab besagtem Zeitpunkt einen tiefgreifenden Wandel erfuhr. In diesen Jahren setzt die Studie ein. Sie analysiert auf Basis archivalisch-historischer Quellenforschung, Bild- und Diskursanalysen sowie Interviews diese Entwicklung hin zur «grünen» Stadt unter drei inhaltlichen Perspektiven, welche die Studie auch strukturieren:

1. Grüne Häuser: Städtische Oberflächen und Imaginationen idealer Urbanität

Die Studie setzt mit einer Darstellung der Stadtkritik der 1970er- und 80er-Jahre ein, die unter dem Rubrum der «grauen Stadt» geführt wurde. Bei dieser handelte es sich gleichermassen um eine populäre wie professionelle Debatte, in der diverse Missstände fordistisch-moderner Urbanisierungsprozesse auf die Oberflächen der Stadt projiziert wurden – auf die «monotonen» Fassaden und den «leblosen» Beton – und derart als Platzhalter eine breite Ablehnung quer durch unterschiedlichste Milieus und politische Lager erfuhren. Zugleich begann auf mehreren Ebenen eine erste, vornehmlich symbolische Begrünung der grauen Stadt. In zeitgenössischer Gegenwartskunst um 1980 florierten Projekte, die mit dem Kontrast von Siedlung und Natur (oftmals: Bäumen) operierten, und in der urbanen Subkultur erfreuten sich Imaginationen eines apokalyptischen Re-Wildings der Stadt grosser Popularität. Geradezu stilprägend wurde dieses Sujet durch Franz Hohlers Erzählung Die Rückeroberung (1979) aufbereitet und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Neben diesen Grünfantasien ist auch die damals entstehende Ökoarchitektur als Schritt hin zu einer grüneren Stadt zu deuten. In Anbetracht der überschaubaren Zahl konkret gebauter Projekte handelte es sich auch bei der ökoalternativen Architektur der 1970er- und 80er-Jahre primär um ein symbolisches Unterfangen. Sie wurde – trotz anderen programmatischen Schwerpunktsetzungen ihrer Protagonisten – in der populären Wahrnehmung meist auf ihre signalhaften Oberflächen reduziert: auf begrünte Fassaden und Dächer. Auch alternative Stadt- und Gesellschaftstheoretiker wie Rudolf Schilling oder Lucius Burckhardt bezogen sich ebenfalls auf Morphologien und materielle Anmutungen der urbanen Oberflächen. Ihre Sehnsucht nach dem Unperfekten, Kleinteiligen und Vielgliedrigen verbanden sie mit einer grundlegenden Revision der Moderne, der sie das Konzept einer alternativen Moderne entgegensetzten. Als solche selbstredend nie realisiert, dienten jene Projektionen einer «Nachmoderne» doch als wichtige Experimentierfelder für Werte und Lebensstile, welche den Aufstieg einer neuen urbanen Mittelschicht und die damit verbundenen Reurbanisierungsprozesse ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert alimentieren sollten.
Die Debatte um die grüne Stadt setzt sich im 21. Jahrhundert fort, teils in Kontinuität zu Topoi der alternativen Stadtkritik, teils unter neuen Vorzeichen. Unter dem Eindruck der Klimakrise ist die Begrünung der Stadt unterdessen offizielle Planungsdoktrin geworden. Die administrative Grünpraxis trifft aber auch auf Widerstände; beispielsweise auf einen mit Dringlichkeitsrhetorik operierenden «Grünpopulismus», der eine weit radikalere und raschere Begrünung der Stadt einfordert – und sich nicht selten in Opposition setzt zu abwägender behördlicher Realpolitik wie planerischer und gestalterischer Expertise.
Auch einer weiteren hegemonialen Grüntendenz schlägt jüngst vermehrt Skepsis entgegen: den allerorts in die Höhe strebenden Grünfassaden von Headquarters und anderen ikonischen Gebäuden der spätkapitalistischen Stadt. Diese Architekturästhetik mainstreamisierter «Nachhaltigkeit» sieht sich dem Vorwurf der Täuschung ausgesetzt. Als grüne Mäntelchen stehen die signalhaften Oberflächen in den Augen ihrer Kritiker sinnbildlich für jenen «sustainability fix» postfordistischer Stadtpolitik, die eine nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft verspricht, ohne aber Wachstumsparadigmen in Frage zu stellen. Bis heute werden also Verhandlungen um die «richtige» Urbanität über städtische Oberflächen geführt – und grüne Gebäude bilden einen privilegierten Ort jener Ausmarchungen, sei es in populären Imaginationen wie in professionellen Raumbildern.

2. Stadtnatur: Entdeckung, Schutz und Gestaltung einer neuen Natur

Der zweite Teil der Studie holt diese Imaginarien auf den Boden zurück – wortwörtlich. Hier zeichne ich nach, wie ab den späten 1970er-Jahren und vor dem Hintergrund des Diskurses um die graue Stadt der Gegenstand «Stadtnatur» konturiert wurde. An der Etablierung eines neuartigen Blicks auf innerstädtische Naturbestände waren mit Blick auf die Schweiz unterschiedliche, akademische wie laienhafte Strömungen beteiligt: pflanzensoziologisch inspirierte Freiraumtheorien beispielsweise von Dieter Kienast, die «Naturgarten»-Idee von Ulrich Schwarz sowie etablierte Naturschutzorganisationen wie SBN und WWF. Vor allem die Naturschutzpublizistik integrierte die sich teils stark widersprechenden Ansätze zu einer homogenen und wirkmächtigen Gesamtheit. Dabei waren es meist jüngere, der ökoalternativen Bewegung nahestehende Autoren, welche diese neue Sichtweise auf Natur und Stadt in den Zeitschriften der traditionellen Naturschutzorganisationen zu vermitteln suchten. Die Popularisierung dieses neuen urbanen Naturbezugs gestaltete sich primär als Sehschule und ästhetische Erziehung. In den Artikeln wurden bislang ignorierte, profane Stadträume wie Hinterhöfe oder Brachflächen dem Publikum vorgestellt und als exotische und wertvolle Lebensräume für Pflanzen und Tiere portraitiert. Begleitet wurde diese Entdeckungsberichte über grüne Inseln im grauen Häusermeer durch eine Umwertung konventioneller gärtnerisch-gestalterischer Maximen: Während saubere, gepflegte Grünräume nun plötzlich als tot und steril angeklagt wurden, erfuhren unordentliche, verwilderte Stadträume und dort spriessendes Unkraut eine ästhetisch-moralische Aufwertung als schön, natürlich und richtig. Auch wenn sich diese alternative Naturbegeisterung auf neue Räume wie Bahnböschungen und neue Gegenstände wie beispielsweise Ruderalvegetation bezog, glich sie insofern doch den historischen Naturbeziehungen des westlichen Bürgertums, als sie diverse moralisch-politische Wertsetzungen in diese «Natur» projizierte – um sie aus dieser wieder herauszulesen und eigene gesellschaftliche Setzungen naturalisieren zu können. Sprich: das nobilitierte Unkraut und der verwilderte Innenhof standen nun für Spontaneität, Dynamik, Authentizität, Diversität und Toleranz. Diese ehedem alternativ konnotierten Werte sollten im Laufe der nächsten Dekaden zunehmend auch von der mittelständischen Mehrheitsgesellschaft adaptiert werden und so zur Formierung einer «Gesellschaft der Singularitäten» (A. Reckwitz) beitragen. Bereits in den 1980er-Jahren setzten aber auch verschiedene Akteure an, solche Kontinuitäten der – nun bloss mit alternativen Inhalten angereicherten – ideologischen Naturalisierungsmechanismen zu überwinden, in dem sie dichotomischen Konzeptionen von «Natur» und «Gesellschaft» (resp. «Stadt») andere, nicht-dualistische Naturauffassungen entgegenstellten. Anders als der Gegenstandsbereich «Stadtnatur» vermochten diese konzeptionellen Beiträge sich vorerst aber nicht bedeutend zu popularisieren.
Unbesehen ihrer punktuellen Pionierrolle in der Entdeckung der Stadtnatur sollten die etablierten Naturschutzorganisationen ihre programmatische Ausrichtung auf ländlich-alpine Räume in den 1980er- und 90er-Jahren nicht wesentlich ändern. Diese Lücke versuchten Neugründungen explizit stadtökologisch orientierter Naturschutzvereine zu füllen, in Zürich beispielsweise ab 1988 die Gruppe Ökozentrum Zürich. Mit Blick auf ihr stadtgesellschaftliches Mobilisierungspotential sowie ihre Wirkung in die Fläche (den Stadtraum bzw. städtische Naturräume) blieben die Einflüsse dieser Gruppe aber bescheiden.
In dieser Hinsicht weit bedeutsamer war die Rolle, welche die Stadtregierung und die städtische Verwaltung einnahm, primär in Gestalt des Gartenbauamts der Stadt Zürich. Ab 1978 unter neuer Führung des naturschützerisch orientieren Direktors Peter Stünzi, entwickelte sich das Amt zu einem wichtigen Taktgeber für umsichtige Planung sowie naturnahe Pflege und Gestaltung von Grünräumen und den Schutz urbaner Naturbestände in der Limmatstadt. Das Amt, das bald auch schweizweit von einschlägigen Kreisen als Best-Practice-Beispiel ausgelobt wurde, setzte innerhalb des Korsetts administrativer Realpolitik diverse Postulate der Stadtnaturpioniere um. Dabei war es zu einem andauernden Spagat gezwungen zwischen weitergehenden Forderungen ökoalternativer Gruppen und Bürger und ausdrücklicher Skepsis seitens konservativer und rechtspopulistischer Kreise.
Trotz dieser Spannungen vermochte das Amt in den 1980er- und 90er-Jahren diverse Projekte umzusetzen: Inventarisierungen, verbindliche Freiraum-Planungskonzepte, die Gründung einer gut dotierten Naturschutzabteilung sowie eine rege Öffentlichkeitsarbeit.
Als sich jedoch in den 1990er-Jahren grossflächige Umnutzungen ehemaliger Industrieareale ankündigten, wurden dem Gartenbauamt aber deutliche Grenzen seiner städtebaulichen Einflussmöglichkeiten aufgezeigt – beispielsweise was den Umfang oder die angestrebte Naturnähe neu geplanter Freiräume anbelangte. Mit einer Darstellung dieser Spannung zwischen wachstumsorientierter Stadtpolitik, privater Verfügung über Grund und Boden sowie administrativen und zivilgesellschaftlichen Flächen- und Artenschutzbemühungen und den sich daraus ergebenden Transformationen naturschützerischer Raum- und Naturkonzepte schliesst der zweite Teil.

3. Naturbeziehungen: Stadtidentitäten, urbane Gemeinschaften und Regieren im Zeichen des Grünen

Nach den Grünimaginationen und naturräumlichen Zugriffen des Schutzes, der Gestaltung und der Planung analysiert der dritte Teil und letzte Teil der Studie alltägliche Natur(raum)beziehungen und darüber vermittelte Subjektivitäten und Soziabilitäten.
Die um 1980 neu entdeckten urbanen Naturräume wurden von Anbeginn weg auch zur Bühne neuer Formen von Öffentlichkeit und stadtgesellschaftlicher Zugehörigkeit. So postulierten alternative, nutzerorientierte Freiraumtheorien um 1980, dass ein gewisser Grad an Verwilderung die Aneignung des öffentlichen Raumes begünstige. Die Theorien stilisierten die spontane Aneignung innerstädtischen Raums zum rebellischen Akt und idealisierten Brachen zu heterotopen Freiheitsräumen, bevölkert von Nonkonformisten, die sich – mindestens hier – der Kolonialisierung der Lebenswelt noch zu entziehen vermögen. Diese Überhöhung der Aneignung funktionierte über idealisierende Stereotypen «wilder» Kinder beim unregulierten Spiel bis hin zu elaborierteren Theorien der raumvermittelten Selbstregulation urbaner Öffentlichkeiten, wie sie beispielsweise Lucius Burckhardt skizziert hatte, in dem dieser den Zusammenhang von selbstbestimmter Raumnutzung, Anpassung der Vegetation als Abbild jener Nutzung und sich daraus ergebender Lesbarkeit des Raumes hervorhob.

Diese Ansätze bildeten den theoretischen Überbau eines erlebnisorientierten Lebensstils, der den Stadtraum gezielt als sinnliches und zeichenhaftes Stimulans konsumierte – als «semiotisierten» Stadtraum (Reckwitz). Getragen wurde jener Lebensstil von alternativ-ökologischen Milieus und es waren auch jene Kreise, die unablässig mit neuen stadträumlichen Praktiken experimentierten. Letztere fanden gerade auch in Vermittlungsformen von «Stadtnatur» in den 1990er-Jahren ihre Anwendung und Popularisierung; in Stadtwanderungen, Nachtexkursionen, urbanen Safaris und Quartierparcours. Diese unkonventionellen Formate thematisierten neuartige Naturthemen wie Neophyten, Ruderalvegetation oder innerstädtische Hitzeinseln und führten an ungewohnte Orte wie Stadtränder oder Autobahnbrücken. Sie waren an der Herstellung neuartiger wissensbasierter Lokalidentitäten beteiligt, die zwar einerseits tradierte Topoi der Heimatkunde des frühen 20. Jahrhunderts fortsetzten (z.B. Appelle zum bewussten und aufmerksamen Beobachten des Nahräumlichen), andererseits aber auch gänzlich neue Wissensbestände nobilitierte. Letzteres geschah häufig im Sinne jener zeitgeistigen Aufwertung des Alltäglichen und Exotisierung des Profanen, die auch in den damaligen Ethnowissenschaften oder Künsten eine Konjunktur verzeichneten.
Als die ehemals minoritären avantgardistischen Lebensstile der alternativen Urbaniten zunehmend in der Mitte der Gesellschaft angekommen waren, war es bloss noch ein kleiner Schritt von der zum rebellischen Akt stilisierten Eroberung des Rasens um 1980 bis zur – behördlich so bezeichneten – «Übernutzung» städtischer Freiflächen in einem rundum eventisierten Zürich der 2000er- und 2010er-Jahre.

In Wechselwirkung mit Topoi der Entfremdung verknüpften Stadtnaturakteure seit den 1970er-Jahren die Hoffnung, dass mit der Etablierung neuer (Stadt)Naturbeziehungen auch bessere Beziehungen unter den menschlichen Stadtbewohnern hervorgingen. «Quartierverbesserungen» wie Innenhofbegrünungen in den 1970er-Jahren und im folgenden Jahrzehnt beispielsweise Quartierkompost-Initiativen verfolgten nie ausschliesslich ökologische oder naturschützerische Ziele, sondern strebten immer auch Gemeinschaftsbildung an. Eine paradigmatische Form der gegenwärtigen Grünpraxis führt diesen Anspruch der Soziabilität schon im Namen: der Gemeinschaftsgarten. Erst in jüngerer Zeit wurden Fragen nach Exklusivität und Ausschlussdynamiken in diesen «grünen» Gemeinschaften expliziter gestellt: Fragen nach privatisierenden und kontrollierenden Tendenzen des öffentlichen Raums durch Garteninitiativen sowie nach deren sozialer und ethnischer Homogenität. Gerade letzter Punkt zieht sich wie ein roter Faden durch die rund vierzigjährige Geschichte der Stadtnaturthematisierung in Zürich. Obwohl von progressiven Milieus initiiert und geprägt, bildeten beispielsweise Fragen nach spezifischen Naturbeziehungen migrantischer Stadtbewohnerinnen einen blinden Fleck der neuartigen Grünbeziehungen – wie die tradierte «Natur» des Bürgertums im 19. Jahrhundert war auch die «Stadtnatur» nur bestimmten Schichten spätmoderner Stadtgesellschaften zugänglich.
Diese Problematik spiegelt sich auch im nie ganz geklärten Status des «Fremden» und des «Einheimischen» in der Stadtnatur. Seit der Entdeckungsphase existierten in den betreffenden Diskursen zwei eigentlich unvereinbare Sichtweisen nebeneinander: Strikter Nativismus stand unvermittelt neben einem urbanökologischen Kosmopolitismus. Bald schwang sich erstere Perspektive zur dominierenden auf und prägt bis auf den heutigen Tag naturschützerisches wie behördliches Naturraummanagement. Erst in jüngster Zeit wird dieser Konsens punktuell in Frage gestellt, in den Künsten aus der Perspektive des Postkolonialen oder nicht-dualistischer Naturkonzepte, in grünplanerischen Expertendiskursen mit Blick auf den Klimawandel und innerstädtische Hitzeeffekte.
Grünbeziehungen waren nicht nur Projektionsflächen für zivilgesellschaftliche Soziabilitäten, sondern stets auch ein Medium des Regierens. Die Studie schliesst mit einer gouvernementalitätstheoretisch informierten Perspektive auf behördlich geförderte Praktiken der Kooperation und Partizipation, welche die urbanen Grünpraktiken und ihre Akteure schon seit den 1970er-Jahren charakterisieren. In dieser Ausformung waren Stadtnaturbeziehungen stets auch Experimentierfeld für neuartige Interaktionsformen zwischen Regierung, Verwaltung und Stadtbevölkerung und widerspiegeln – beispielsweise in sich wandelnden behördlichen Unterstützungen für bestimmte Gruppen und von ihnen vertretene Naturideale – zugleich auch auf, wie sich stadtgesellschaftliche Hegemonien veränderten und entsprechend neue Akteursgruppen den Raum städtischer Politik zu prägen begannen.